Warum ich?

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# Andacht

Warum ich?

Immanuel Kant hat einmal darauf verwiesen, dass die Vernunft dem Menschen Fragen zumutet, die letztlich nicht zu beantworten sind. Die Erinnerung an das furchtbare Geschehen des Holocaust, dessen wir in dieser Woche gedacht haben, macht uns sprachlos. Und obwohl wir wissen, dass die Antwort ausbleiben wird, können wir nicht einfach ausweichen, indem wir sie einfach ignorieren. Wie konnte dies geschehen, dass das Menschsein, das nicht teilbar ist, der Vernichtung preisgegeben wurde?

Warum ich? Bohrend verfolgt einen Kranken diese Frage. Selbst wenn die Krankheit diagnostisch eingeordnet ist, verstehbarer wird, bleibt ein Rest des Unerklärbaren. Und so begegnen wir diesem Augenblick mit Hilflosigkeit. Es ist eben nicht alles eine Frage des Verstandes. Er stößt an Grenzen. Es ist nicht alles machbar. So ist das Leben.

Da suchen wir nach dem Sinn des Ganzen und ahnen, dass wir mit unserem Verstehen diesen Sinn nicht schaffen können. Das Herz scheint Gründe zu kennen, die der Verstand nicht kennt. Da heißt es aushalten, durchhalten, Aussagen stehen lassen können, den berühmten langen Atem sich bewahren. Wir Christen nennen diese Haltung: Vertrauen.

Diese Fragwürdigkeit des Lebens führt mitten in die Auseinandersetzung mit dem Glauben und mit der Mitte des Glaubens, Gott selbst. Rainer Maria Rilke hat einmal einem guten Freund, der in einer tiefen Ratlosigkeit steckte, die Zeilen geschrieben: „Habe den Mut, Deine Frage zu leben und vertraue darauf, dass das Leben zu seiner Zeit Dir selbst die Antwort geben wird.“ Glauben heißt nichts anderes als Mut zum Sein; es zu wagen, was Leben genannt wird. Nicht aus Angst den Widrigkeiten ausweichen, sondern aushalten, dazu lädt die Haltung des Glaubens ein. Davon handeln die biblischen Geschichten. Sie sind lebendige Zeugnisse gelebter Zuversicht. Ja, wir werden Zeugen, wie fragwürdig dieser Gott im Leben begegnet werden kann.

Da ist nicht heile Welt angesagt, sondern tiefste Abgründe tun sich auf in den Beziehungen zwischen Gott und Mensch, sei es in der großen Geschichte der Menschheit, sei es im kleinen, überschaubaren eigenen Leben: mein Gott, warum? Warum lässt DU durch Menschenhand verursachte Leiden zu? Warum mutest Du mir das zu? Und die Antwort lässt quälend lange auf sich warten. Sie kommt nicht leichtfüßig daher. Kommt sie überhaupt? Und so wird auch der Glaube an seine Grenzen geführt, wie das Leben. Deshalb sind Glaubenserfahrungen Lebenserfahrungen. Daher ist ein Leben ohne Glaube unvorstellbar; nicht billiger Trost, sondern eine spannungsgeladene Beziehung, oder um es mit der britischen Krimiautorin Dorothy Sayers, die bekannteste neben Agatha Christie, zu sagen: „Die Glaubensgeschichten der Bibel sind die spannendsten Geschichten, die ich je gelesen habe. Hoch dramatisch.“

In eine solche spannungsreiche, dramatische Situation wird der Wochenspruch hineingesprochen. Das Volk Israel befindet sich in der Gefangenschaft. Sein Gott ist fremd geworden. Wo sind all die Zusagen? Ausgelöscht, nur ein Trugbild? In diese Fragwürdigkeit des Erlebten sagt Jesaja: „Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit scheint über dir.“ Der Sinn des Lebens kann und wird nicht ausgelöscht werden. Der Glaube spannt über all die Fragwürdigkeiten unseres Lebens die Zusage Gottes aus, dass er mein Gott bleiben wird.

Es gibt ein „Dennoch“. In dieser Zusage finde ich die Antwort, die der Verstand mir nicht geben kann, zu der der Glaube aber einladen will. Vertrauen heißt letztlich: Lebe! Höre nicht auf, darauf zu vertrauen, dass die Liebe die stärkste Kraft des Lebens ist. Wir haben allen Grund dazu. Denn in Jesus Christus begegnet uns Gott mit seiner ganzen Liebe, die mir und allen Menschen zugesprochen ist.

Zuerst erschienen im Westfalen-Blatt, 1. Februar 2025

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